Abrahams Opfer.

Es ist einen der grausamsten Gesichten der Bibel: Abraham soll seinen Sohn Isaak opfern, also eigenhändig töten; schlimmer geht’s nicht. Erst im letzten Moment befiehlt Gott dem Abraham, sein Tötungswerkzeug wegzuwerfen und seinen Sohn zu „schonen“. Schonen? Was muss der arme Isak in diesen Stunden des gemeinsamen Weges zum Berg alles schon psychisch durchlitten haben? Der Vater hat seinen Sohn belogen; der Sohn bleibt im Ungewissen, die Mutter wird mit keinem Wort erwähnt; war sie bei der Tötung des Sohnes so völlig außerhalb des Geschehens, dass sie nicht mehr für ihren vom Kindesmord bedrohten Sohnes intervenieren konnte?

 

Und der Sohn? Hat er wirklich gemerkt, was der Vater vor hatte? Hat er sich nicht gewehrt, als der Vater ihn packte und ihm die Hände festband? Warum hat er dem Vater keinen der vielen Steine an den Kopf geworfen und ist bergabwärts weggelaufen?

 

Fragen über Fragen. Die Szene ist oft dargestellt, weil sie die Menschen bewegt hat. Berühmt ist das Rembrandt-Bild, aus dem der Engel dem Abraham das Messer aus der Hand reißt. Im Frühjahr war ich in Frankreich, u. a. in der berühmten Benediktiner-Abtei S. Benoit, wo höchstwahrscheinlich die Gebeine des hl. Benedikt ruhen. Unter den vielen Sandsteinplastiken fiel mir wieder die Abraham-Isaak-Darstellung auf. Leider ist die Skulptur ziemlich verwittert, aber man sieht den alten Abraham, der offenbar zum Himmel blickt, und der kleine (!) Isaak scheint zu weinen; seine Hände sind gefesselt, er kann sich nicht wehren. Abraham zieht gerade das Messer und schreckt zurück; oder ist das Augenblick, wo er das Messer wieder zurückzieht?  Scheinbar scheint ihn eine Stimme zu warnen. Bemerkenswert finde ich, dass Isaak in dieser Skulptur ein kleiner Junge ist, ein Kind, das  sich nicht wehren konnte, selbst wenn er es gewollt hätte.

 

Und Gott? Gott wirkt völlig desorientiert: Will er nun das Opfer, oder will er es nicht? Wieso ändert er so schnell seine Meinung? Und die Vorstellung, dass Gott in einem Kindesmord die Glaubenstreue des Abraham auf die Probe stellen wollte, ist geradezu teuflisch.

 

Die Geschichte ist eine Erzählung, und solche Erzählungen, die man sich oft am Lagerfeuer erzählte, waren häufig sehr blutrünstig. Davon gibt es in der Bibel etliche. Aber sie hat einen historischen Hintergrund. Nicht, indem die Geschichte so passiert ist, sondern indem im Erzählen die Menschen erfahren, dass der Übergang vom Menschenopfer zum Tieropfer hier ihren literarischen Niederschlag gefunden hat. Irgendwann haben die Menschen gespürt und verinnerlicht, dass das Menschenopfer bestialisch ist. Abraham steht sinnbildlich an dieser wichtigen historischen Grenze: Auf keinen Fall Menschenopfer, wie man es lange gemacht hat. Mit Abraham beginnt eine neue Religionsepoche, in der man zu recht das Menschenopfer ablehnte. Solche Übergänge sind fließend; man bedenke, dass in den Urkulturen Lateinamerikas noch vor einigen Jahrhunderten das Menschenopfer üblich war. Schrecklich!

 

Bei Isaak folgt der religiösen Bedrohung das Leben, bei Jesus folgt der Hinrichtung die Auferstehung. Wir dürfen annehmen, dass die Christern später diese Parallele gesehen haben.  Also: Wir haben hier im 22. Kapitel des Buches Genesis insofern eine historische Geschichte, weil sie das Ende des Menschenopfers erklärt, und wir haben eine theologische Deutung, weil das Gottesbild am Ende der Geschichte ein anderes ist als am Anfang. Das Happy-End: Menschenopfer sind seit Abraham vorbei. Das war vor etwa 5300 Jahren.