Kreuz ohne Kreuz

Ja, dieses Bild gibt viele Rätsel auf: was soll denn das bedeuten? Jesus als Gekreuzigter ohne Kreuz? Bilder vom Gekreuzigten, der sich in Todesnot am Kreuz windet und krümmt, kennen wir viele, besonders aus der Barockzeit. Da kann der Todesschmerz gar nicht quälend genug ins Bild, in die Plastik gesetzt werden.

Ich weiß nicht, ob dieser Jesus jemals an einem Kreuz gehangen hat; das wäre wohl die ursprüngliche Intention des Künstlers gewesen. Ich weiß übrigens auch nicht, wer der Künstler war und wann das Kunstwerk geschaffen wurde; ich weiß nur, dass dieser Christus in der Liebfrauenkirche in Bocholt zu sehen ist und dass ich jedes Mal zutiefst beeindruckt bin, wenn ich das Bild sehe: ein Gekreuzigter ohne Kreuz!

Die Jesus-Geschichte seiner Passion ist eigentlich eindeutig: Jesus wurde, tot, vom Kreuz abgenommen und tot ins Grab gelegt, von dort ist er wieder, am Ostermorgen, zu einem Lebenden geworden. Was ist er also auf unserem Bild: lebendig oder tot; mit Kreuz oder ohne Kreuz? An dieser Stelle muss wohl daran erinnert werden, dass die Kirche seit alters her verkündet, Jesus sei am Tag nach der Kreuzigung in die Welt der Toten hinabgestiegen; das ist eine sehr schwierige und für mich kaum nachvollziehbare Botschaft: War er tot oder lebendig, als er in die Unterwelt zu den Verstorbenen des Alten Testamentes hinabstieg? Oder war er schon am Karsamstag ein Auferstandener? Es fällt mir sehr schwer, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Meine Antwort ist anders, und die gibt mir das wunderbare Bild: Sobald dem Gekreuzigten das Kreuz abgenommen wurde, tanzte er der Auferstehung, also dem Leben entgegen. Denn was mir an dieser Christus-Figur so gefällt, ist der Tanzende, der Lebende, der Glückliche, der Bewegte. Er steht auf den Zehenspitzen, das ist die große Kunst der Tänzer. Was muss das für ein vor Leben sprühender Mensch sein, der den Tanz des Lebens tanzt: die Hände wie zum Jubel erhoben; die knappe Kleidung flattert im Wind des tanzenden Lebens, das Gesicht in sein Inneres gerichtet und zugleich herabblickend auf die Welt, die zu er lösen er gestorben ist.

Aber: Er lebt! Er tanzt! Er tanzt der österlichen Auferstehung entgegen.

Ganz nebenbei: Es ist bekannt, dass früher die Domherren der Kathedrale von Chartres in dem berühmten Labyrinth ihren Ostertanz tanzten, zumeist schon sehr betagte Männer, die es sich nicht nehmen ließen, den österlichen Lebenstanz zu tanzen. Welch herrliche Idee!

Wie schön wäre es, wenn auch in unseren Kirchen, dem Beispiel Jesu folgend, am Ostersonntag im Gottesdienst getanzt würde: den Tanz des Lebens, den Tanz der Auferstehung, den Tanz des siegreichen Jesus!

Bildnachweis: Anna Lück, vielen Dank.