Großes Fastentuch in Zittau.

Wir waren im September in Zittau: Wir, das waren 50 Pilgerinnen und Pilger zur Via Sacra. Die Via Sacra liegt in dem Länderdreieck Deutschland – Polen  Tschechien; 16 Ziele geistlich-religiöser Hochkultur befinden sich an dieser Pilgerstrecke: berühmte Klöster wie Marienthal, Marienstern, Grüssau, Heindorf; bedeutende andere Sakralbauten wie die Kirche in Hirschberg, die Stabkirche Wang in Krumhübel; besonderes wertvolle Pilgerziele wie die Nachbildung des Hl. Grabes in Görlitz und ganz besonders die beiden Fastentücher in Zittau. Das Große Fastentuch in Zittau war wohl der Höhepunkt unserer Pilgerreise.
 
Wir Westfalen kennen Fastentücher; man nennt sie hier gewöhnlich Hungertücher oder – etwas salopp – „Schmachtlappen“; man denkt an Telgte, Freckenhorst, Vreden ua. Hungertücher wurden früher in der Fastenzeit aufgehängt, um den Altar zu verdecken und die Fastenzeit mit meditativen biblischen Bild-Impulsen zu füllen, bevor dann am Karfreitag das Tuch, das das Kreuz verdeckte, abgenommen wurde und das nun enthüllte Kreuz feierlich verehrt wurde. Die Westfälischen Hungertücher sind ein feines Leinengewebe, fast wie ein Schleier, viele Löcher sind gefüllt mit weißen Leinenfäden, die dann insgesamt viele Darstellungen der Geschichte Jesu, besonders der Passionsgeschichte, ergaben. Ich habe mal gelesen, dass man diese handwerkliche Technik als „Filetarbeit“ bezeichnet. Anders ist das berühmte  Fastentuch aus Gurk in Kärnten; da sind die Bilder nicht gestickt, sondern farbig gemalt, 100 an der Zahl.
Das Fastentuch in Gurk ist sehr gut erhalten.
 
Das Große Fastentuch in Zittau ist in nicht so gutem Zustand. Es stammt aus dem Jahr 1472, wurde in der Reformationszeit abgenommen und auf dem Dachboden der Burg Oybitz gelagert, wenig sachgemäß natürlich. Als die Russen Ende des 2. Weltkrieges den Osten Deutschlands besetzten und das Fastentuch fanden, haben sie es zerschnitten und daraus Duschvorhänge gemacht.
 
Außerordentliche Verdienste hat sich dann der Kölner Jesuitenpater Friedhelm Mennekes um das Tuch erworben, als er es aus dem unseligen Zustand holte und  in Riggisberg in der Schweit die Renovierung veranlasste und erstmals das wunderbar restaurierte Tuch in der Fastenzeit 1995 in der Kunststation St. Peter in Köln präsentierte; es war ein einschneidendes Erlebnis, auch für mich.
 
Das Tuch ist riesengroß, in Zittau füllt es einen gewaltigen Glasbehälter, der nötig ist, um das Tuch vor Temperatur-Schwankungen zu bewahren. Dort, in der Hl.Kreuz-Kirche in Zittau ist es also zu sehen, und unsere Pilgergruppe war davon absolut fasziniert; es gilt nach meinem Geschmack zu den schönsten und kostbarsten religiösen Kunstwerken in Deutschland.
 
Einige der 90 biblischen Szenen sind verwittert; kein Wunder bei dem Schicksal des Tuches. Bei jeder Szene steht einmitteldeutscher Spruch darunter, und unter dem Bild vom Abendmahl Jesu  steht „das obint esse thet got mit der jungen schar“ (Ich habe es hoffentlich richtig abgeschrieben!); übersetzt: „Gottes Sohn feiert mit den Jüngern das Abendmahl“  Das Bild selbst spricht für sich; ob beim Abendmahl Jesu tatsächlich nur Männer waren und nicht, wie beim Paschahmahl üblich, auch Frauen und Kinder, wollen wir ein anderesmal  betrachten.
 
Wunderbar ist das Bild, auf dem der jugendliche Adam der ebenso jugendlichen Eva, die die beiden Zwillige Kain und Abel auf dem Schoss hält, eine Schale mit Äpfeln reicht; war die Ursünde im Paradies vielleicht eine „Jugendsünde“?  Oder die sieben Tage der Schöpfungserzählung, wo Gott als rein junger Mann auftritt, und man denkt an das Johanneswort: „der Logos war bei Gott, und der Logos  war selbst Gott“; oder der Einzug in Jerusalem.
 
Ich mache gewöhnlich keine Werbung für toutistische Reiseziele, aber dies ist ein ganz außerordentliches Ziel für Pilger, Kunstfreunde und Touristen.