Der lächelnde Engel von Reims.

Vor einigen Monaten, auf einer Frankreich-Tour, habe ich ihn wieder gesehen, und er ist immer wieder sehr eindrucksvoll, dieser Engel am Eingangsportal der Kathedrale von Reims. Auch seinen „Bruder“, den lächelnden Engel von Chartres, habe ich wieder gesehen, und die beiden Engel haben eine große Ähnlichkeit, wie es nun mal bei Geschwistern der Fall ist. Wenn ich eine Abbildung sähe, wüsste ich nicht auf Anhieb, welcher der beiden berühmten Engel es ist.
 
In der Bibel steht, dass jeder Mensch „seinen“ Engel hat, und in der Regel sind die Schutzengel verkitscht. Dieser Engel von Reims ist alles andere als kitschig, aber er macht nachdenklich: Ist der Engel vielleicht einer, der uns mit seinem ungekünstelten Gesicht Mut macht, das Leben zu genießen? Oder will er uns die Angst vor unschönen Lebenssituationen nehmen?
 
Ich bin vor fast 75 Jahren, wenige Wochen vor Kriegsbeginn, geboren; ich habe zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester manche Stunden im Bunker verbracht. Das war damals der Antoniusbunker, der als einziger Bunker in Münster gehalten hat, obwohl er kräftig bombardiert wurde. Und ich erinnere mich sehr wohl, und ich erlebe das heute noch manchmal im Traum, wie die Bomben auf den Bunker fielen und wie nachher an der Stelle, wo meine Mutter das Fahrrad abgestellt hatte, nur noch ein großer Bombentrichter war. Und wie auf der Rückfahrt vom Bunker aus einem zerstörten Haus die Leichen heraus getragen wurden. Das waren schreckliche Erlebnisse. Aber ich hatte keine Angst, weil mein Schutzengel bei mir war.
 
Der Schutzengel war ein Teddy, den meine Mutter mir geschenkt hatte. Sie hatte ihn selbst im Jahr 1907 bekommen, er war einer der ersten Modelle der Fa. Steiff, und die gab es seit 1903. Mein Teddy gehörte also zur ersten Generation der Steiff-Teddys. Aber das war nicht das Tolle an diesem Teddy, sondern dass ich keine Angst hätte, wenn ich den Teddy bei mir hatte. Deswegen ist mein Teddy, den ich bis heute hoch in Ehren halte, so etwas wie mein Schutzengel gewesen. Schutzengel müssen ja auch nicht unbedingt aussehen wie die Engel von Reims oder Chartres. Sondern sie können so sein wie mein Teddy.
 
Oder sie können aussehen wie richtige Menschen: wie Oma und Opa, wie die Eltern, wie die immer freundliche und hilfsbereite Nachbarin. Es gibt eben auch menschliche Schutzengel, und als ich mal den Einsatz einer freiwilligen Feuerwehr erlebte, dachte ich auch: Schutzengel.
 
Schutzengel, so meine ich jedenfalls, werden nicht an den Flügeln erkannt, das   ist sogar relativ selten. Es gibt ja ein wunderschönes Gedicht von Kurt Marti: „Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel…“ Angeblich gibt es mehr Menschen, die an die Existenz von Engeln glauben, als Menschen, die an Gott glauben. Das kann man natürlich nicht nachprüfen. Aber ohne Engel wären wir ziemlich arm. Und wenn ich meinen Teddy nicht als Schutzengel gehabt hätte, hätte ich schwere Jahre in meiner frühen Kindheit gehabt.