Du wirst einen Sohn gebären!

Mitten in Ingolstadt liegt das riesige Liebfrauen-Münster, ein Prachtbau aus der Zeit der Gotik. Wenn die Kirche noch höhere Türme hätte, könnte man sie fast von München aus sehen. Das gotische Gewölbe scheint den Himmel zu berühren. Am Ende Chores steht ein wunderbarer Flügelaltar mit biblischen und außerbiblischen Szenen, die sich zumeist um Maria drehen. Ich erinnere mich gut an ein Bild, wo Maria mit Joseph verlobt wird. Oder eine Szene, auf der Maria von den Tempelpriestern zum Tempeldienst aufgenommen wird; wir finden solche außerbiblischen Erzählungen in den so genannten apokryphen Geschichten, die sehr alt sind, aber nicht zum kanonischen Bestand der Bibel gehören.

Besonders reizvoll im Liebfrauen-Münster ist die barocke Krippe mit zahlreichen parallelen Darstellungen: Verkündigung an Maria, Herbergssuche, Geburt und Anbetung des Jesuskindes, Ankunft der Magier, Leben in Nazareth usw. Die Szene vom Familienleben in Nazareth gefällt mir besonders gut: Während Maria mit der Spindel Wolle dreht, arbeitet Joseph an seiner Werkbank, und der Jesusknabe ist ihm behilflich. Der unbekannte Künstler hat den Jesus mit einem halblangen Kittel, mit Kniehosen und einem bunten Halstuch dargestellt; so modisch würde er unter den heutigen Jugendlichen nicht besonders auffallen. Er hat übrigens blonde Locken; dabei gab es zur Zeit der Entstehung der Krippe noch gar nicht das Lied von dem „holden Knaben im lockigen Haar“; genau so ist Jesus auf der Krippe dargestellt.

Es ist übrigens wenig Dekoration auf der Krippe, nur geflochtene weiße Weidenmatten. Manche finden das etwas dürftig, wenn man bedenkt, welche gigantischen Landschaften oft auf unseren Kirchenkrippen angelegt werden. Aber vielleicht ist weniger tatsächlich mehr, wie die Krippe in Ingolstadt zeigt.

Unser Bild ist die adventliche Szene von der Verkündigung des Engels an Maria; der Engel Gabriel kündet die Geburt des Jesuskindes an. Das ist auf der Krippe eine wunderbare Szene; man muss sich mal die Maria ansehen mit ihrem schwarzen Zopf und ihrer kostbaren Bekleidung, ein rotes Kleid und einen weißen Schleier. Auf dem Kleid sind goldene Verzierungen; ob die „Magd des Herrn“ wohl so ausgesehen hat? Ob sie so ähnlich bekleidet war? Jedenfalls ist sie wunderschön, auch in ihrer sehr dezenten Haltung, die sogar ein bisschen kokett wirkt.

Aber der Engel! Von solchen Engeln wimmelt es auf der Ingolstädter Krippe: „eine himmlische Heerschar“. Da hat der Barock-Künstler wirklich seiner Fantasie freien Lauf gelassen: das Gesicht und die Frisur; die tolle Kopfbedeckung, die ein wenig an die Mitra eines Bischofs erinnert. Mit seinen engen Stiefeln ist er hochmodern; allerdings sind die Stiefel, von denen es wieder in den Einkaufsstraßen der Städte wimmelt, sonst nicht golden; aber die goldenen Stiefel stehen dem Engel prima, viel besser als die Beinbekleidung der meisten Stiefelträgerinnen heute. Und dieses Gewand! Da wird manche Frau vor Neid erblassen, aber das tragen Engel offenbar mit Anmut und Leichtigkeit. Und dann trägt er auch noch einen langen, goldenen Umhang, und riesige weiße Spitzen an den Ärmeln.

Haben Sie schon mal einen solchen Engel gesehen? Da scheint tatsächlich ein Stück vom Himmel auf die Erde zu kommen. Und darum geht es ja letztlich in der Weihnachtsgeschichte – und in der Verkündigungsgeschichte: Dass der Himmel sich mit der Erde verbindet, und es sind immer Personen, die das besorgen: wunderbare Personen wie Maria und vor allem wie der Engel. Zu Weihnachten wird es dann das Kind sein. Leider ist das kleine Jesus-Kind auf der Ingolstädter Krippe splitternackt! Hätten die Engel da nicht ein bisschen von ihrer schönen Kleidung abgeben können? Oder Maria? Wie ungerecht doch die Welt ist, in die hinein das Jesuskind geboren wird.