Geist auf Papier.

Zwei Vorbemerkungen: Erstens habe ich diese Postkarte von einer Reise nach England mitgebracht; Knaben eines englischen Internats werfen ihre Briefe in einen Briefkasten, und weil der Kasten so hoch ist, müssen sie auf einen Stuhl steigen. Und zweitens: Das Bild ist wohl nicht ganz neu; denn heute werden die Knaben ihre Briefe wohl nicht auf Papier schreiben und in den Briefkasten werfen, sondern sie werden sie per E-Mail verschicken. Bestimmt stehen auf den meisten Zimmern der Schüler entsprechende Apparate. Es ist die leichtere Art, in Kommunikation miteinander zu treten, und schneller als mit der Post geht es auch.

Aber zum Bild: Man spürt als Zuschauer schon die Aufregung, die für die Jungen mit der Sendung des Briefes verbunden ist; vielleicht denken sie schon an die zu erwartende Antwort? Die Briefe gehen wahrscheinlich an Eltern, Großeltern, also an Leute, an die es viel aus dem Schul- und Internatsleben mitzuteilen gibt. Mit welcher Begeisterung die kleinen Kerle ihre Briefe einwerfen, zunächst aber einfach wie einen Schatz bei sich tragen. Der erste steht auf dem Stuhl und sieht seinem eingeworfenen Brief noch nach, der dritte kann es gar nicht abwarten, bis er seinen Brief einwerfen kann. Der achte strahlt über das ganze Gesicht, weil er bald mit dem Einwerfen des Briefes dran ist. Und alle blicken mit andächtiger Erwartung auf den Vorgang des Briefeinwerfens, und keiner drängt sich vor, aber das ist in England normal: Niemand in der Schlage drängelt, egal, ob es vor der Kasse im Supermarkt, in der Schlange am Taxi-Stand oder eben vor dem Briefkasten ist.

Irgend wie spricht aus unserem Bild auch ein gewisses Urvertrauen, dass die Post die Briefe pünktlich und zuverlässig befördert. Ohne dies Vertrauen würde niemand einen Brief in den Postkasten werfen. Und in den allermeisten Fällen ist das Vertrauen auch begründet: Fast immer erreicht uns der Brief auch tatsächlich. Manchmal dauert es ein bisschen länger, aber wenn der Brief ankommt, ist die Freude groß.

Weniger groß ist meine Freude, wenn ich täglich zehn bis zwölf Drucksachen bekomme, meistens Werbesendungen oder Bettelbriefe. Das eine ist so lästig wie das andere. Ich ärgere mich besonders, wenn ich Bettelbriefe, auch von kirchlichen Hilfsorganisationen bekomme, bei denen in dem beiliegenden Überweisungsformular schon mein Name und meine Anschrift eingetragen sind. Solche unverschämten Briefe werfe ich sofort ungelesen in den Papierkorb oder in den Schredder; ich meine, dass das den Tatbestand der Nötigung erfüllt.

Zurück zu unseren kleinen Briefschreibern. Was sie geschrieben haben, wissen wir nicht. Aber sicher ist, dass sie etwas zu Papier gebracht haben, was ihrem Denken und Überlegen, ihrer Fantasie und ihrem Mitteilungsbedürfnis entsprungen ist. Ein Brief ist ein wunderbares Phänomen: ein zur lesbaren Schrift gewordenes geistiges Produkt. Briefe und Bücher und andere Medien sind die Sichtbarkeit des eigentlich unsichtbaren Geistigen. Was ich auf Papier schreibe, ist der Abdruck geistiger Vorgänge. Was ich denke, kann ich in Schrift übersetzen. Und so ist es wohl auch bei unseren kleinen Briefschreibern. Sie werden sich gedanklich darauf vorbereitet haben, was sie aus ihrem Geist auf das Papier des Briefes übertragen wollen und welchen Teil ihrer geistigen Prozesse sie für so wertvoll halten, dass sie sie in Schrift übertragen und somit anderen mitteilen. Briefe sind mitgeteilter Geist.

Darin in den Tagen um Pfingsten herum zu erinnern, ist nicht unwichtig. Der Geist hat sich in den Heiligen Schriften unseres Glaubens gefestigt. Was der Geist zu sagen hat, kann man „schwarz auf weiß“ nachlesen. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass etliche der Schriften des Neuen Testaments in Briefform geschrieben sind. Briefe sind Äußerungen des Geistes, so haben wir gesagt. Der Geist wandelt sich in Schrift und Sprache. Hoffentlich wird er immer im Lesen und Hören erkannt.