Blick in den Himmel

Wer nach London kommt, wird es auch bei knapper Zeit nicht versäumen, einen Besuch in der Westminster Abbey zu machen, diesem herrlichen Bauwerk der Gotik. Berühmt sind die vielen Gräber bedeutender Persönlichkeit aus der Politik, der Musik, der Dichtung und der Gesellschaft. Auch der Krönungsstuhl der englischen Könige, auf dem vor mehr als fünfzig Jahren auch Königin Elisabeth gekrönt wurde, findet große Beachtung.

Das kostbarste Stück aber, das viele zu den architektonischen Weltwundern zählen, ist die „Lady-Chapel“, also die Marienkapelle, die von Heinrich VII. errichtet wurde; und in dieser ist die wunderbare Gewölbe-Decke wirklich ein ganz und gar wunderbares Kunstwerk. Sie ist der Höhepunkt der Gewölbe-Kunst überhaupt. Auch wenn man in vielen englischen Kathedralen und Klosterkirchen wunderbare Deckengewölbe findet: Dies in Westminster ist das bedeutendste und schönste. Es ist der unüberbietbare Höhepunkt der Gewölbe-Kunst. Später wird es in den Barockkirchen großartige Gewölbemalerein geben, etwa in Süddeutschland und den Alpenländern. Die Maler haben da ist mit malerischen Tricks gearbeitet; sie haben eine Flachdecke so perspektivisch gemalt, dass sie plastisch wirkt; und man hat den Eindruck, man blickt in den offenen Himmel.

Hier in Westminster ist der Himmel greifbar nahe. Allerdings war es bis hierher ein langer Weg. In der frühen Architektur hat man wohl einfach flache Holzdecken eingezogen, wie z.B. in St. Michael in Hildesheim. Diese Decke wurde oft reich bemalt, die schönste Deckenmalerei der Romanik ist m.E. in St. Martin in Zillis/ Schweiz, wo über hundert biblische Abbildungen an die flache Holzdecke gemalt sind. Irgendwann beginnt man dann, Tonnengewölbe auf schwere Pfeiler zu legen, z. B. in St. Philibert in Tournus/Frankreich. Bald darauf entwickelt sich auch hier in unserer Gegend kuppelähnliche Gewölbe in die Kirchen einzubauen. In Freckenhorst kann man in der Vierung und über dem Altar ganz alte Gewölbe sehen, deren Grate sich noch nicht in der Mitte treffen. Es ist wirklich wie eine Kuppel; erst die Gotik schafft dann die spitzbögigen Gewölbe, wie wir sie in Köln, Ulm und an vielen anderen Orten in den gotischen Kirchen sehen.

Alles wird in Westminster übertroffen. Wie es technisch möglich war, ein solches Wunderwerk zu schaffen, können wir gar nicht verstehen. ES müssen wirklich Meister ihres Faches sein, die nichts anderes im Sinn hatten, als den Himmel über der Erde auszubreiten. Da ist keine leere, ungestaltete Stelle mehr. Alles ist eine einzige Orgie der Bildhauer-Kunst. Fast alles ist rund, also Symbole der Vollendung. Nur wenige Linien erfüllen noch den Zweck, dem das Gewölbe eigentlich dienten: die Kirche zu bedecken und das Dach zu stützen. Übrigens ahnt man, dass auch die Wände der Abtei nur noch aus dünnen Steinlinien besteht; nur das allernötigste Stützwerk wurde geschaffen, aber es ist, als ob man schweben würde. Und erst recht empfindet man die Schwerelosigkeit eben beim Anblick der Decke, die leicht und luftig wie ein Schleier über dem Raum liegt. Mitten in den Kreisen stecken Schluss-Steine, die sich wie Hände dem Betrachter entgegenstrecken, als ob sie ihn nach oben ziehen wollten.

Das Gewölbe wurde im Jahr 1505 von dem Baumeister William Vertue geschaffen, dessen älterer Bruder Robert den Unterbau der Kapelle gebaut hat.
William muss eine Ahnung vom Himmel gehabt haben, und eine wunderbare Fantasie hatte er auch. Und bautechnisch war er ein absoluter Meister. Vielleicht muss sich wirklich all das in einem einzigen Menschen sammeln, damit er zu etwas so Großem fähig ist. Das einzigartige Gewölbe lädt den Betrachter ein zur Meditation über den Himmel.

Ulrich Zurkuhlen (Juli 2004)