Geben ist seliger als Nehmen!

Die meisten von uns kennen dieses Sprichwort, mit dem wir oft schon in jungen Jahren zu Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft erzogen werden sollten. Das Wort ist der Bibel entnommen. Aber bevor wir uns dem Zitat widmen, noch eine kleine Anekdote:

Die Lehrerin versucht den Kindern, den Sinn dieses Sprichwortes zu erklären und nennt dazu etliche Beispiele. Die Kinder hören aufmerksam zu, aber einer der Jungen hat auf dem Gesicht einen seltsamen Ausdruck. Schließlich zeigt der Junge auf und sagt: „Diesen Spruch hat mein Vater als Motto in seinem Beruf.“ Die Lehrerin ist begeistert: „Da hast Du aber einen tollen Vater, der im Beruf immer wieder anderen etwas zu geben bereit ist. Wunderbar! Und was ist Dein Vater von Beruf?“ Der Junge: „Boxer!“

Das hat der Apostel Paulus sicher so nicht gemeint, und Jesus auch nicht. In der Apostelgeschichte Kap. 20, Vers 35 spricht Paulus in seiner Abschiedsrede in Milet von den Problemen, die er erlebt, aber auch von den oft mühsamen Versuchen, das Gute und Richtige zu tun. Er weist auf die Pflicht des Christen hin, sich abzumühen und den Schwachen zu helfen. Und dabei zitiert er Jesus: „Geben ist seliger als Nehmen.“ Ich hätte vermutet, dass eine solche Aussage Jesu auch in einem der Evangelien stände, aber da kann ich den Jesus-Spruch nicht finden.

Viel schwieriger ist es, hinter den Sinn des Jesuswortes zu kommen; ist das Geben immer etwas Gutes und Erstrebenswertes? „Ich gebe einem anderen einen kräftigen Tritt in den Hintern.“  „der Vater gibt seinem Kind ganz unbegründet, aber wütend eine Ohrfeige.“  „Das Kind gibt zuhause immer Widerworte.“ usw. Sind das denn Symptome für Seligkeit? Nein, das haben weder Paulus noch Jesus gemeint. – Aber vielleicht so: „Jemand gibt eine große Spende für arme Menschen!“ „Jemand gibt auf die Frage, wo denn der Bahnhof ist, eine freundliche Antwort.“ „Jemand gibt seiner Freundin einen Kuss!“ „Jemand gibt dem anderen zur Begrüßung die Hand!“ usw. Das alles und vieles mehr klingt doch eher im Sinne Jesu.

Oder umgekehrt: Nehmen!  „Der Autofahrer nimmt einem anderen die Vorfahrt!“ „Jemand nimmt einem anderen den Platz weg!“ „Jemand nimmt einem anderen die Geldbörse mit dem ganzen Geld!“ usw. — Oder: „Jemand nimmt ein freundliches Hilfsangebot!“ „Jemand nimmt dankbar das Geschenk in die Hand, das ein andere schenkt.“  usw.

Das Fazit kann etwa so laute: „Das Zitat stimmt im Prinzip, aber wichtiger ist doch, was man gibt und was man nimmt. Und da gibt es viele Möglichkeiten. Ich möchte also sagen: Das Wort selbst ist noch nicht der Sinn des Ganzen, sondern man muss differenzieren.

Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn der kleine Junge begeistert ist, wenn der Vater seinem Gegner heftige Faustschläge gibt.

Ulrich Zurkuhlen