Das Wessobrunner Gebet.

Vor einigen Jahrzehnten, als ich in Innsbruck studierte, bin ich mit meinem Motorrad mehr zufällig durch den kleinen bayrischen Ort Wessobrunn gekommen, in der Nähe des Ammersees. Ich kann mich erinnern, dass ich den Text des „Wessobrunner Gebets“ auf einem Steindenkmal eingemeißelt fand; das Gebet selbst war mir vom Studium her nicht ganz unbekannt, aber auch nicht geläufig.

Jetzt, nach mehr als 40 Jahren, war ich wieder in Wessobrunn und erinnerte mich der damaligen Begegnung mit einem der ältesten Gebete, die es in Deutschland je gegeben hat, jedenfalls in der althochdeutschen Sprache. Lateinische Gebetstexte gab es massenweise, aber das Althochdeutsche war ziemlich unbekannt, und so ist es ein überragendes Ereignis, dass ein Mönch, vermutlich im Kloster Wessobrunn, dieses Gebet verfasst hat. Das Original ist heute in der Bayrischen Staatsbibliothek in München. Das Gebet dürfte um 800, vielleicht auch schon eher, geschrieben sein, die Schrift ist die karolingische Schrift, die Sprache ist das Althochdeutsche:

De Poeta
Dat gafregin ich mit firahim firiuuizzo meista
Dart ero ni uuas noh ufhimil
Noh paum (…) no pereg ni uuas
Ni (…) nohheinig noh sunna ni scein
Noh mano ni liuhta noh der mareo seo.
Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo
Enti do uuas der eino almahtico cot
Manno militisto, enti dar uuarun auh manake mit inan
Cootlihhe geista. Enti cot heilac

Cot almatico, du himil enti erda gauuorahtos enti du mannun so manac coot forgapi, forgip mir in dino ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistom enti spahida enti craft, tiuflun za uuidarstanntanne enti arc za piuuisanne, enti dinan uuilleon za gauurchanne.

(Dann folgt noch ein kurzer lateinischer Text)
Die Übersetzung:

Etwas vom Dichter.
Das erfuhr ich bei den Menschen / als das erstaunlichste Wissen:
Dass die Erde nicht war / noch das Firmament,
weder Baum (hier fehlt ein Wort) noch Berg,
kein (fehlt wahrscheinlich: Stern) // und auch die Sonne nicht schien,
noch der Mond leuchtete / und auch das herrliche Meer nicht war.
Als da nichts existierte / an Enden und Wenden,
da war der eine / allmächtige Gott,
das freigebigste aller Wesen / und bei ihm waren viele
herrliche (gute) Geister / Und Gott (ist?) heilig…

Gott, allmächtiger, der Du Himmel und Erde erschaffen und den Menschen so viel Gutes gegeben hast, gewähre mir in Deiner Güte rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen und das Böse zu meiden und Deinen Willen zu tun.
Wie gesagt: ein Gebet spätestens um das Jahr 800 geschrieben. Wenn man daran denkt, dass dieser Text vor mehr als tausend Jahren verfasst wurde, dann bekommt man eine Ahnung vom tiefen Glauben derer, die vor uns lebten und die Gott in ihrer Sprache anredeten.