Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.

Poitiers in Südfrankreich ist eine schöne Stadt mit einer herrlichen romanisch-gotischen Kathedrale. Kaum ein Spanien-Tourist fährt allerdings mal eben von der Autobahn herunter, um einen Besuch in der Kathedrale Notre-Dame-la-Grande zu machen. Schade. Denn die Kirche gehört zu den ganz großen Kunstwerken Europas. Als ich das erste Mal Poitiers besuchte, war die Fassade der Kirche leider eingerüstet. Aber im vorigen Jahr, auf einer Fahrt nach Santiago de Compostela, war die Fassade in ihrer ganzen Schönheit zu sehen, und ich habe es natürlich nicht versäumt, einige Fotos zu machen, u.a. auch dies. Und die Pilgergruppe war von den Plastiken fasziniert.

Da sind zwei menschliche Gestalten zu sehen. Man könnte die beiden für ein Liebespaar halten, vielleicht. Oder ist ihre Umarmung vielleicht doch ein wenig zu distanziert? Es können auch Menschen sein, die sich nach langer Trennung wieder sehen. Aber die beiden blicken einander nicht an, sondern blicken aus dem Bild heraus auf den Betrachter des Bildes. Ihre Umarmung ist innig, aber nicht überschwänglich.

In der sehr guten Beschreibung, die ich in einem Reiseführer gelesen habe, ist diese Umarmung symbolisch; sie bezieht sich auf den Psalm 84 (bzw. in einer anderen Zählung Psalm 85), Vers 11. Romano Guardini hat übersetzt: „Begegnen werden sich Gnade und Traue, Recht und Friede einander umarmen.“ In einem französischen Reiseführer stand eine etwas andere Formulierung, die übersetzt heißt: „Liebe und Vertrauen umarmen sich, Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“. Gerechtigkeit und Frieden! Justitia et Pax! Das war übrigens der Wahlspruch von Kardinal Höffner. Der jüdische Gelehrte Martin Buber schreibt in seinem „Buch der Preisungen“, also einer dem Hebräischen sehr nahen Psalmenübersetzung: „Huld und Treue treffen einander, Wahrhaftigkeit und Friede küssen sich.“ Wir wollen darauf verzichten, weitere Übersetzung hinzu zu ziehen. Alle sind ähnlich, aber nicht genau gleich.

Es ist eine sehr starke Aussage von dem, um das es zutiefst geht: Dass nämlich Gerechtigkeit und Friede einander bedingen; keines von beiden geht ohne das andere: Wenn Frieden nicht mit Gerechtigkeit verbunden ist, gibt es keinen Frieden. Wenn Gerechtigkeit nicht vom Frieden gespeist wird, gibt es keine Gerechtigkeit. Das ist umso bemerkenswerter, als wir gerade im Hinblick auf die Friedenshoffnung im Land Jesu genau dies bestätigt finden: Wenn es zwischen den beiden Völkern keine Gerechtigkeit von beiden Seiten gibt, wird es nie zum Frieden kommen. Und ein Friede, der nicht unbedingt die Gerechtigkeit für den anderen will, kommt nie zum Ziel.

Das gilt ja schon in der kleinen menschlichen Gemeinschaft von Ehe und Familie so: Wenn es nicht gerecht zugeht zwischen Eltern und Kindern, zwischen Bruder und Schwester, wird es nicht friedlich zugehen. Gerechtigkeit und Friede sind aufs engste miteinander verbunden, wie bei einem Kuss, einer Umarmung.

Man könnte sich natürlich Gedanken darüber, machen, ob „Recht“ und „Gerechtigkeit“ immer dasselbe sind. Es gibt tatsächlich bei der Rechtssprechung vor Gericht Urteile, die juristisch einwandfrei sind, aber dem Opfer nicht gerecht werden. Wer sein Recht einfordert, handelt nicht unbedingt auch gerecht. Insofern ist Gerechtigkeit nicht immer eindeutig.

Auch der Frieden ist ähnlich mehrdeutig: Manche verstehen unter Frieden, besonders im politischen Geschäft, nur das Schweigen der Waffen. Friede aber bedeutet im christlichen Kontext, dass einer für den anderen da sein will; dass Schranken durchbrochen werden; dass Mauern eingerissen werden.

Jedenfalls bleibt gültig, was die schöne romanische Plastik von Poitiers sagt: Gerechtigkeit und Frieden sind so eng miteinander verbunden wie ein Liebespaar.