Das Abendmahl.

Es sei das am meisten besuchte Einzelkunstwerk der Welt, kann man im seriösen Dumont-Reiseführer nachlesen, und wahrscheinlich stimmt das; denn das Abendmahl von Leonardo da Vinci in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Mailand ist ein einzigartiger Anziehungspunkt für Kunstexperten, Touristen, Pilger… Als wir 1997 als Kirchengemeinde eine Wallfahrt zu religiösen Orten der Lombardei machten, haben wir auch das Abendmahl gesehen, vor dem man sich nur wenige Minuten aufhalten darf; die zweistündige Wartezeit hat sich gelohnt; das Bild ist von einzigartiger Faszination.

Als Leonardo da Vinci sein Bild im Jahre 1498 vollendet hatte, begann es bereits wenige Jahre später zu verfallen. Denn der große Maler hatte das Wandbild nicht in der stabilen Fresko-Malerei gemalt, bei der das Bild in den nassen Putz aufgemalt wird, damit die Farben in den Putz einziehen und lange bestehen bleiben; diese Technik hat allerdings den Nachteil, dass sehr schnell gemalt werden muss. Leonardo wählte die Tempera-Technik, bei der er sehr langsam und behutsam arbeiten konnte, aber die Farben sind feuchtigkeitsempfindlich und zerfallen ziemlich schnell. Außerdem ist das Bild öfters „restauriert“ worden, dann wurden ganze Flächen nachgemalt, und das Bild hatte nur noch wenig mit dem ursprünglichen zu tun. Seit 1980 wird nun so restauriert, dass alles, was vom ursprünglichen Bild erhalten ist, freigelegt wird, während alle späteren Zutaten entfernt werden. Das hat allerdings den Effekt, dass das Bild so lückenhaft ist, wie es die Postkarte zeigt. Aber es ist authentisch. Und es hat eine große religiöse und künstlerische Ausstrahlung. Übrigens wäre das Bild in der Nacht vom 15. auf den 16. August 1943 durch Bomben zerstört worden, wenn man nicht rechtzeitig das ganze Bild durch Sandsäcke geschützt hätte; der Saal, in dem sich das Bild befindet, wurde jedenfalls in der Bombennacht vollkommen zerstört.

Das Bild ist nun ins Gerede gekommen, und zwar durch Dan Browns Bestseller „Sakrileg“ und den danach entstandenen Film. Es überrascht, dass der Autor nicht wegen Plagiats verurteilt worden ist; denn er hat die ganze Thematik bei den beiden Autoren Baigent und Leigh abgeschrieben; ihr Buch „Der heilige Gral“ habe ich vor Jahren gelesen, spannend, aber ohne jeden Bezug zur Realität. Es geht also um die alte Geschichte, dass Jesus gar nicht gestorben sei, sondern Maria Magdalena geheiratet habe, Kinder bekommen und mit der ganzen Familie nach Südfrankreich gezogen sei. Es habe sich dann ein Orden gebildet, der die Nachkommen des heiligen Paares geschützt habe, und unter den Hochmeistern dieses Ordens befänden sich im Ablauf der Geschichte Newton, Leonardo da Vinci und viele andere, zuletzt der französische Präsident Alain Poher. Spannend und auch irgendwie witzig ist das Ganze, aber natürlich nicht ernst zu nehmen, weil es für diese Story nicht den geringsten Hinweis irgendwo in seriöser antiker Literatur gibt, ein reines Hirngespinst, das eben nicht von Brown erfunden, sondern abgeschrieben ist.
Und das Abendmahl? Dan Brown stellt die abenteuerliche Theorie auf, der Jünger Johannes zur Linken Jesu – vom Betrachter aus – sei in Wirklichkeit Maria Magdalena, und wenn man die Figur auf die rechte Seite von Jesus postiere, dann schmiege sich die angebliche Geliebte dicht an Jesus heran. Dabei ist das Ungewöhnliche an der Johannes-Figur gerade, dass er links von Jesus sitzt, anders als auf den meisten anderen Darstellungen. Aber die Bildung der Dreiergruppen, die Gesamtkomposition des Bildes und vor allem die mehrfache biblische Vorlage lassen gar keine andere Deutung zu als die, dass hier tatsächlich die zwölf Apostel abgebildet sind, unter ihnen Judas („Giuda“), der mit Petrus und Johannes eine Gruppe bildet. Johannes wird in der Regel als ganz junger, noch bartloser Mann dargestellt, weil er wohl im Apostelkolleguium der Jüngste war.

Die Apostel zeichnen sich durch große Individualität aus, und man kann ahnen, wie sorgfältig Leonardo seine Modelle ausgesucht hat. Goethe hat übrigens in einem Essay aus dem Jahre 1817 darauf hingewiesen, dass vor allem die Bewegung der Hände eine große Lebhaftigkeit ausstrahlten und dass die Körper ein hohes Maß an Bewegung widerspiegelten; Goethe meint, dass sei ein besonderes Kennzeichen der Italiener, und diese Dynamik sei so lebhaft, dass man an den Gesten ablesen könne, was die einzelnen Personen zueinander wortreich austauschten. Ganz sicher stimmt die Beobachtung, dass man den Eindruck hat, jeden Augenblick können das Bild in Bewegung geraten und die Figuren sich verlebendigen – ein hochinteressanter Gedanke.

Und da scheint mir Goethe der Gestalt und dem Gehalt des Bildes viel näher zu kommen als Dan Brown, dessen filmische Widergabe seines Buches wohl nicht gerade zu empfehlen ist. Das Abendmahl aber intensiv anzublicken und zu meditieren, ist die Mühe wert; dann bekommt man tatsächlich einen sehr tiefen Zugang zu einem der großartigsten Kunstwerke der Welt.

Ulrich Zurkuhlen (Juni 2006)