Löwe aus dem Stamm Juda.

Der Löwe ist der König der Tiere; er ist das Symbol von Macht und Gewalt; er wird geliebt und gefürchtet. Von seinem eindrucksvollen Gesichtsausdruck, den wir auf dem Bild gleich in der mehrfachen Weise junger Löwen sehen, lassen sich Menschen immer wieder faszinieren, aber sie möchten nicht, dass die Löwen ihnen allzu nahe kommen. Da ist das Gitter im Zoo schon ein zuverlässiger Garant für das Gleichgewicht von Nähe und Distanz zwischen Löwe und Mensch.

Der mächtigste Stamm unter den zwölf Stämmen Israels war der Stamm Juda; in dem berühmten Jakobssegen über die zwölf Söhne (= Stämme) wird Juda mit dem Löwen verglichen: „Ein junger Löwe ist Juda. Vom Raub, mein Sohn, wirst du groß. Er kauert, liegt da wie ein Löwe, eine Löwin. Wer wagt, sie zu scheuchen? Nie weicht das Zepter von Juda, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der kommt, dem der Gehorsam der Völker gebührt.“ (Gen 49,9f.)

Der Löwe ist Zeichen von Überlegenheit und Beutegier, aber auch von Herrschaft und Vorrangstellung. Was aber Juda betrifft, so zeigt sich in der Geschichte, dass der Stamm unter den Zwölf tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt. Er allein bildet das „Südreich“, während Israel, das „Nordreich“, aus den andern elf Stämmen besteht. David ist zunächst nur König des Südreichs; denn er stammt aus Bethlehem „im Lande Juda“. Erst nachdem er schon einige Jahre König von Juda ist, wird er auch von den andern elf Stämmen als König akzeptiert und ist der Herrscher des ganzen Landes. In Personalunion regiert er die beiden Staaten. Seine Hauptstadt ist die Hauptstadt Judas: Jerusalem. Während das Nordreich Israel im Jahre 721 von den Assyrern erobert wird, fällt Jude mit der Hauptstadt Jerusalem im Jahre 587 den Babyloniern zum Opfer. Judas Bewohner kehren, jedenfalls teilweise, im Jahr 538 aus dem Exil in ihre Stadt Jerusalem zurück.

Ist der „Löwe von Juda“ gezähmt, seine Krallen gestutzt? Ja, soweit es Gewalt und Beutegier betrifft. Nein, soweit es um das Königtum geht, das von Juda nicht weicht. Denn „in Bethlehem im Lande Juda“ wird ein neuer König geboren; deshalb ist der Ort Bethlehem, auch wenn er „die kleinste unter den Fürstenstädten Judas“ ist, so wichtig. Jesus wird nun in ganz neuer Weise der Herrscher von Juda – und nicht nur von Juda – sein.

Das letzte Buch der Bibel nennt den siegreichen Jesus den „Löwen aus dem Stamm Juda“, und jeder wusste, dass hier der große Bogen vom ersten Buch des Alten Testaments zum letzten Buch des Neuen Testaments gespannt wurde. „Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen.“ (Off 5,5)

In vielen mittelalterlichen Illustrationen wird Christus als Löwe abgebildet. Er ist letztlich mit dem Löwen aus Juda gemeint; sein Auferstehungstag ist ein Zeichen für seine unbesiegte und unbesiegbare Macht. Hier schwingt übrigens noch ein ganz anderer Ton der Auferstehung mit: Weil der Löwe angeblich mit offenen Augen schläft, also ein Symbol ewiger Wachsamkeit ist, verglich man dies mit dem dreitägigen Todesschlaf Jesu. Und weil man damals meinte, dass totgeborene Löwenjungen am dritten Tag zum Leben erweckt würden, sahen die Menschen auch hierin ein Zeichen der dreitägigen Todesruhe Jesu und seines Erwachens zum Leben nach drei Tagen.

Nicht immer haben Löwendarstellungen diese Christus-Bedeutung. Oft werden sie an Kanzeln, Taufbecken und Portalen als Symbole der unerlösten Welt dargestellt: Macht, die gebändigt werden muss. Daran kann man sehen, dass man immer darauf achten muss, in welchem Zusammenhang und in welcher Intention Tiersymbole verwendet werden; gerade beim Löwen ist die Darstellungsabsicht doppeldeutig.

Schließlich wird das Bild des Löwen noch in einem ganz anderen Zusammenhang gebraucht: Im ersten Kapitel des Ezechiel-Buches wird von den „vier Lebewesen“ berichtet, von denen jedes vier Gesichter und vier Flügel hat: Mensch, Stier, Adler und Löwe. Auch dieses Bild wird in der Apokalypse aufgegriffen, und wieder ist es das Sinnbild Jesu, von denen der Löwe wiederum für Tatkraft, Führung und Königtum steht, wie der Kirchenvater Irenäus von Lyon das Bild deutet.

Und das Stiergesicht steht für Opferbereitschaft Christi, das Menschengesicht für seine Menschwerdung, das Adlergesicht für den Geist, der der Kirche zufliegt.

Übrigens sind die Symbole der vier Lebewesen später umgedeutet auf die vier Evangelisten, und da ist der Löwe der Begleiter des Markus, weil im ersten Kapitel seines Evangeliums das Auftreten des Bußpredigers Johannes mit dem Brüllen eines Löwen verglichen wird.

Ulrich Zurkuhlen (April 2005)