Madonna mit dem Kind.

Ich habe diese Postkarte vor 17 Jahren bekommen; nette Menschen haben sie mir aus Brügge in Belgien geschickt. Seitdem halte ich sie in Ehren, und gerade in diesem Monat, in dem die Kirche am 15. August ein hohes Marienfest feiert, bedeutet mir das Bild besonders viel.

Das Bild zeigt eine Marmor-Plastik; sie steht in der Liebfrauenkirche in Brügge an einem zentralen Platz, auf einem Altar in einer großen Seitenkapelle. Viele Menschen besuchen dieses Marienbild täglich; Kerzen werden angezündet, Gebete werden zum Himmel geschickt, dorthin also, wo nach katholischem Verständnis Maria ihren endgültigen Ort bei Gott gefunden hat.

Die Marmor-Plastik ist von Michelangelo; er hat sie vor etwas mehr als einem halben Jahrtausend aus dem Marmor geschlagen. Wunderbar sind die Falten des Gewandes, noch schöner sind die Gesichter der beiden, Mutter und Jesuskind. Dass das Kind „nichts an hat“, ist eine Ausdrucksform der Zeit damals; so sehen viele Bilder aus. Eine besonders schöne Einzelheit ist es, wie die Mutter und das Kind einander die Hände reichen; oder halten sie sich vielleicht gegenseitig fest? Maria bedeckt mit ihrem Mantel jedenfalls teilweise das Kind. In der rechten Hand trägt Maria ein Buch; die Bibel vielleicht? Maria sitzt auf einer Art Thron, das Kind steht im Faltenwurf der Mutter. Das Kind ist nicht ein neugeborenes, sondern eins, das vielleicht ein Jahr oder auch etwas älter ist.

Aber wie alt ist eigentlich Maria? Das ist eine tiefgründige Frage. Das Bild in Brügge ist das einzige Bild Michelangelos nördlich der Alpen. Und wer denkt nicht sofort an die weltberühmte Pieta von Michelangelo im Petersdom in Rom.

Und das Sensationelle: Das Gesicht von Maria ist auf beiden Bildern fast gleich. Maria blickt sehr gelassen und ernst vor sich, nicht nur auf dem Pieta-Bild, sondern auch hier in Brügge. Dabei sind doch beide Ereignisse grundverschieden: einmal ist es das noch kleine Kind, beim anderen Mal ist es der tote Christus. Beide Male blickt Maria ernst, aber nicht ohne Hoffnung. Auch mit dem toten Sohn auf dem Schoß blickt Maria nicht in Trauer zerfließend, sondern in tiefem Glauben.

Was wird sich Michelangelo gedacht haben, als er beide „Marien“ mit nahezu gleichem Gesicht malte, obwohl zwischen der Geburt des Kindes (Brügge) und dem Tod des Sohnes (Rom) mehr als 30 Lebensjahre liegen. Ich meine fast, dass die beiden Marien-Gesichter austauschbar wären. Gemacht sind die beiden Marmor-Plastiken übrigens im Abstand weniger Jahre.

Vielleicht wollte Michelangelo zum Ausdruck bringen, dass Maria nicht älter wird. Sie bleibt jung, da kann ihr auch das Leiden nichts anhaben. Oder will er vielleicht sogar sagen, dass Maria jetzt, wo sie im Himmel verklärt ist, genauso jung ist wie damals. Im Himmel wird man eben nicht älter.

Welch ein herrlicher Gedanke!