Benedikt XVI.

Die Vorlesungen waren nicht nur gut besucht, sondern der Hörsaal F1 im Fürstenberg-Haus war rappelvoll, wenn Professor Ratzinger seine Vorlesungen hielt. Ich hatte meinen Stammplatz, ziemlich hinten in dem großen Hörsaal. Auf vielen Bänken dieses Raumes, der schon ein bisschen in die Jahre gekommen war, standen eingeritzte Inschriften, die manchmal geistreich, manchmal öbszön, manchmal einfach griffig waren. Bisweilen hatten Studenten früherer Semester ihre Gemütslage in die Klappdeckel der Schreibpulte eingraviert.

Auf dem Platz, auf dem ich gewöhnlich saß, stand zu lesen: „O heiliger Sankt Benedikt, ich bin schon wieder eingenickt!“ Ich schwöre, dass ich nicht der Urheber dieses Spruches war; und der Spruch entsprach auch ganz und gar nicht meiner Gemütslage von Ratzinger-Vorlesungen; denn die waren spannend, und sobald der feinsinnige, immer leicht zerbrechlich wirkende Professor an sein Pult trat, das meistens von einem seiner Assistenten erst höhenmäßig mittels einer Kurbel verändert werden musste, und wenn er dann mit seiner ungewöhnlich hohen Stimme seine Vorlesung begann, konnte man eine Stecknadel fallen hören. Ratzinger sprach druckreif, seien Sprache war von einer
Inneren Dynamik; seine häufigen Bezüge zur Bibel waren ungewohnt, gerade für einen Dogmatiker, der es ja eigentlich mehr mit Thomas von Aquin als mit der Heiligen Schrift zu tun hatte.

Ich hatte in der Schule einen sehr schlechtren Religionsunterricht gehabt, und so haben die Ratzinger-Vorlesungen meine Freude an der Theologie ursächlich entzündet. Es war wahrscheinlich nicht nur er, sondern vor allem auch sein Vorgänger Hermann Volk, der später Kardinal in Mainz wurde; aber Ratzinger war etwas Besonderes, und wenn ich heute noch die Nachschriften seiner Vorlesungen durchblättere, merke ich, wie sehr mich das alles geprägt hat und bis heute mein theologisches Denken bestimmt. Sein grandiosen Vorlesungen über die Eucharistie, über das christliche Gottesbild, über die Kirche sind absolut unvergessen, und so freue ich mich, ihn damals gehört zu haben. Als er dann von Münster nach Tübingen wechselte, habe ich das kaum zur Kenntnis genommen; denn inzwischen war ich schon Kaplan, und seine weitere Biographie habe ich nur im Fernsehen beiläufig verfolgt.

Bis auf zwei Worte, die sich meinem Gedächtnis eingebrannt haben. Erstens: Ein Freund hat in einer Predigt ein Ratzinger-Wort zitiert, welches lautet: „ES gibt so viele Wege zum Heil, wie es Menschen gibt!“ Das bedeutet: Jeder Mensch muss seinen Weg zum Heil finden. Welch eine Offenbarung. Hatten wir nicht immer gelernt, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gebe? Und dann dies: Jeder Mensch muss seinen ganz persönlichen Weg zum Heil finden.

Und zweitens: In einem Interview mit August Everding, vermutlich anlässlich des 70. Geburtstags von Kardinal Ratzinger – ich habe dies Interview als Video-Mitschnitt in meinem Büro stehen – fragt der Interviewer nach der Theologie eines Konklave und der Funktion des Heiligen Geistes. Eine erste Antwort des Kardinals genügt dem Interviewer nicht, und dieser setzt nach: „Was hat der Heilige Geist nun beim Konklave zu tun?“ Die Antwort des Kardinals, mit einem etwas schelmischen Lächeln: „Der Heilige Geist hat beim Konklave die Aufgabe, das Schlimmste zu verhindern!“

Das hat der Heilige Geist ganz sicher beim Konklave vor zwei Wochen getan. Und ich habe mir das außerordentlich interessante Interview in diesen Tagen noch einmal angeschaut und bin ziemlich begeistert.

Ulrich Zurkuhlen (Mai 2005)