Die Stalingrad-Madonna

Die Menschen haben wohl eine sehr unterschiedliche Erwartung an Marien-Darstellungen, nicht zuletzt, weil manchen die ganze Marienverehrung suspekt ist und weil sie überhaupt nichts damit anfangen können. Andere pflegen eine kaum nachvollziehbare inbrünstige Marienverehrung, die sicher subjektiv ehrlich ist, tatsächlich aber ganz dicht am Kitsch und auch inhaltlich ganz am Rande christlicher Frömmigkeit angesiedelt ist.

Es gibt Mariendarstellungen von großer emotionaler Ausstrahlung, etwa Stefan Lochners „Maria im Rosenhaag“. Andere Bilder, besonders aus der mittelalterlichen Buchmalerei, sind nüchterner. Auch die Marienikonen sind in der Regel eher den strengen Mariendarstellungen zuzuordnen.

Wenn ich mit einer Gruppe von Erwachsenen oder Jugendlichen Marienbilder anschaue, vergleiche und frage, welche Darstellung am ehesten zusagt, dann steht bei vielen an erster Stelle ansprechender Marienbilder die „Stalingrad-Madonna“, also eine relativ junge Mariendarstellung.

Das Bild hat eine Geschichte: Es wurde bei der Belagerung der Festung Stalingrad am Weihnachtsfest 1942 von dem Truppenarzt und Pfarrer Dr. Kurt Reuber, der übrigens selbst 1944 in einem russischen Gefangenenlager verstorben ist und nicht wieder in die Heimat zurückkehren konnte, gemalt: eine Kohlezeichnung auf der Rückseite einer russischen Landkarte, deshalb die Knicke auf dem Bild, die wie ein Gitter vor einem Gefängnis aussehen. Ein Soldat hat das Bild in seiner Tasche in den Westen gebracht. Heute befindet es sich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Kurfürstendamm in Berlin, viele Menschen suchen täglich dieses Bild auf und finden dort mitten im Gewühl der Großstadt einen Augenblick der Ruhe und der Einkehr.

Unter einem Mantel sieht man, matt beleuchtet, die Gesichter der Mutter und des Kindes. Das Gesicht der Mutter ist dem Kind zugewandt, mit dem Ausdruck von Zuneigung und Sympathie. Die Hand der Mutter hält den Kopf des Kindes. Wer das Bild ansieht, spürt: Da ist von Mitmenschlichkeit und Liebe, von Geborgenheit und Zuwendung die Rede. Da sind zwei Menschen ummantelt, mitten im Angesicht von Schrecken und Gewalt. Auch in Not und Elend ist der Mensch ein in Gott und von Gott geborgener; das Bild will zugleich Mahnung sein, kommenden Generationen den Schrecken eines Krieges zu ersparen.

Wenn dieses Bild so spontan aufgenommen wird und sich den Menschen erschließt, damit sie sich damit identifizieren können, liegt es wohl auch daran, dass in der Gemeinsamkeit von Mutter und Kind etwas von der Ur-Sehnsucht des Menschen zur Sprache kommt.

Das Bild ist ein Zeichen der Hoffung auf Frieden und Menschlichkeit.

Ulrich Zurkuhlen (Juli 2003)