Ich habe meinen Engel gefunden

Ich habe meinen Engel gefunden.

Seit Jahren – Jahrzehnten? – bin ich auf der Suche nach einem Engel-Bild, von dem ich sagen möchte: Das ist es! Natürlich gibt es Tausende von Engel-Bildern: wesentliche und banale, kunstvolle und kitschige, „richtige“ und „falsche“. Falsche? Viele Engel-Bilder sind keine christlichen, sondern heidnisch-römische Darstellungen: die kleinen „Eroten“, nackt und pausbäckig mit kleinen Flügeln; oder die Siegesgöttin Victoria: keine Darstellungen, die sich an der Offenbarung der Bibel orientieren. Deshalb habe ich immer weiter gesucht nach „meinem“ Engel-Bild.

Vor einiger Zeit habe ich es gefunden: im Sommer, im Urlaub, in Florenz, in der ohnehin sehenswerten Brancacci-Kapelle. Da ist ein wunderbarer Zyklus von Petrus-Geschichten, mehrere Künstler haben diesen perfekten Raum im 15. Jahrhundert gestaltet, so auch Filippino Lippi, der etwa im Jahre 1481 oder 1482 „meinen“ Engel malte.

Die Szene bezieht sich auf eine kurze Episode aus der Apostelgeschichte (Apg. 12, 6-10): Petrus sitzt im Gefängnis, ein Engel besucht ihn des Nachts und führt ihn an der Wache vorbei ins Freie – ein befreiender Engel eben.

Wie behutsam er die Hand des alten Mannes berührt; oder fühlt er ihm den Puls wie ein Sanitäter? Den Fuß setzt er ganz vorsichtig auf den Boden, damit Petrus daran sehen kann, wie die Schritte in die Freiheit überhaupt gehen.

Aber dieses Gesucht! Ich habe solche jugendlichen Gesichter in Florenz oft gesehen: Jedes Gesicht ein Gemälde! Manchmal waren die Locken noch ein wenig dunkler, das Gesicht noch etwas schmaler, die Haut noch etwas sonnengebräunter. So sind die Gesichter in dieser Stadt, die im Sommer von der Sonnenglut fast erdrückt wird.

Eines dieser wunderbaren Gesichter auf den kleinen Motorrädern, mit denen sie laut knatternd durch die Altstadt rasen. Andere traf ich im irischen Pub, direkt neben der Taufkapelle des Domes. Und einer, der so aussah wie der Engel auf dem Bild, wohnte mit seinen Eltern in demselben Hotel wie ich und kam morgens ein wenig verschlafen zum Frühstück; ist der Morgen wohl nicht die Zeit für Engel – eher der Abend, die Nacht, wie in unserer Petrus-Geschichte?

Welch ein Selbstbewusstsein spricht aus diesem Gesicht! Das haben nur Jugendliche und Engel: Souverän gehen sie mit der Welt und den Menschen um.. Sie wissen, was sie wollen; denn sie wollen das Gute, z.B. Freiheit für einen Menschen, der nur deshalb in die Unfreiheit geworfen wurde, weil er zu seiner Überzeugung stand. Das schätzen Engel, und junge Leute schätzen das auch: Freiheit! Freiheit für einen, der das lebt, wovon er ganz und gar überzeugt ist.

Der Engel beobachtet und schweigt. Mag der alte Mann noch Bedenken haben, unsicher sein, vielleicht seinem jungen Befreier mit dem wunderbaren modischen Outfit noch ein wenig misstrauen: „Können junge Leute überhaupt so engagiert, so hilfsbereit, so befreiend sein?“

Der Engel schweigt und drückt die Hand vielleicht noch etwas fester: „Nun komm schon!“ scheint sein fester, freundlicher, aber entschlossener Blick zu sagen. Sicher, etwas besorgt schaut der Engel schon drein. Wird der alte Man seinen Plan überhaupt verstehen? Wird er begreifen, dass Gott ein befreiender Gott ist, und dass der Engel der sympathische Handlanger dieses befreienden, menschenfreundlichen Gottes ist?

Dass der Heiligenschein wie eine Kopfbedeckung der Jugendmode aussieht, ist eine von den vielen netten Beigaben des Bildes.

Und: Stecken vielleicht der Engel und der jugendliche Wächter – auch er wohl ein Stück jugendlicher Florentiner Subkultur – unter einer Decke? Vielleicht hat der eine am Abend vorher in der Disco dem andern gesagt: „Du, diesen alten Mann, den müssen wir da herausholen!“ Und der Wächter war für eine Augenblick eingeschlafen, vielleicht war er wirklich noch müde von der vorigen Nacht, vielleicht hat er auch nur so getan, damit die Aktion reibungslos ablaufen kann. Aber der alte Mann zwischen diesen beiden jugendlichen Befreiern – das ist eine wunderbare Geschichte.

Filippino Lippi hatte vor einem halben Jahrtausend ein Gespür für das, was Engel tun und wofür Engel da sind. Deshalb malte er unter hundert und tausend Gesichtern das schönste: Eben das Gesicht eines Engels. Ich habe „meinen“ Engel gefunden!